Dionysos oder Apollo? Die Frage nach Kunst im Zeitalter globaler und lokaler Naturvernichtung

Dem Text liegt ein Wohlwollen für nicht-menschliche Lebewesen zugrunde. Es geht nicht darum, dieses Wohlwollen zu begründen, sondern es im Kontext der Frage nach einer Kunstform zu behaupten.Vor dem Hintergrund gewollter und ungewollter „Ungepflegtheit“ siedelte sich auf dem Hof Karnitz eine reichhaltige, alt-dörfliche Flora und Fauna an. Dies ist in Anbetracht der sonst eher üblichen„Verschönerung“ dörflicher Lebensräume, wo die Artenvielfalt dem Anblick gepflegter Fassaden und Höfe geopfert wird, ein ökologischer Glücksfall. Aber damit nicht genug. Das Besondere an diesem Standort ist, dass sich die spontane, wilde Flora und Fauna nun nicht mehr nur „halt so“ einstellt, wie es für den einst noch funktionalen dörflichen Alltag üblich war. Vielmehr haben die nicht- menschlichen Lebewesen im Garten ein Gesicht bekommen. Mittels der biologischen Lebensformkunde wurde das Leben und Erleiden dieser Wesen erschlossen. Die menschlichen Bewohner des Hofs wissen jetzt, mit wem sie es aus lebenskundlicher Sicht zu tun haben.

Der empathische Nachvollzug der Lebensformen in Form exakter oder konkreter Phantasie verhilft zu einem wesenhaften Erleben der nicht-menschlichen Mitbewohner des Hofes. Mit der gepflegten Anonymität und auch der wohlfeilen Ignoranz hat es ein Ende. Damit aber beginnen die lebensphilosophischen Probleme erst. Denn nun wird klar, dass die Elemente dieses vielfältigen Lebens mit all ihren erstaunlichen Lebensleistungen in ihrem unbestreitbaren Recht auf Gedeihen, beschränkt werden müssen. Die Beschränkung des Lebens geht bis zur tatsächlichen Ausmerzung. Ausgehend von diesen lokalen Prozessen der Einschränkung und sogar Ausmerzung auf dem Hof lässt sich auf das Ausmaß globaler vergleichbarer Prozesse, etwa Abholzen von Wäldern, im Modus der Betroffenheit schließen.

Der Wust an zahlenbasiertem Material über die Naturzerstörung, der mehr verbirgt als zeigt, wird durchbrochen und es reißt so etwas wie die scheinlose Wirklichkeit auf, die sich bisher hinter dem Schein des Spiels der zu Tabellen und Graphiken umgesetzten numerischen Daten verbergen konnte. Wirklichkeit gibt es nur im Modus des Betroffen-Seins. Der Begriff „Wirklichkeit“ umfasst mehr als das Abnicken abstrakter Sachverhalte. Er schließt das Mitgehen auf subjektiver Ebene ein. Nicht die numerische Fläche des gerodeten Waldes zählt dann allein, sondern die mehr seelisch erfasste Qualität der Rodung kommt zu Bewusstsein, zu einem Bewusstsein darüber, welchen Lebensformen der Lebensraum genommen wurde. Es hat dabei eine Erotisierung der Natur stattgefunden. Was der Natur mit ihren Wesen widerfährt wird leiblich fühlbar oder leiblich interpretierbar. Reflexartig stellt sich eine körperlich geankerte Verabscheuung der Vernichtung von Natur ein. Eine Ahnung befällt das Bewusstsein darüber, was denn „wirklich“ mit Anthropozän gemeint sein könnte oder was der andauernde, gut bekannte Artschwund in Deutschland meinen könnte. Unter Ahnung ist wiederum etwas zu verstehen, was an sich substantiell aber nicht logisch darstellbar ist. Diese Qualität der Betroffenheit ist nicht auf rein rationale Weise darstellbar.

Von hier wird eine mögliche Rolle der Kunst bestimmbar. Vereinfacht gesehen bewegt sich Kunst auf der Basis von Traum oder Rausch (Nietzsche). Traum ist mit Bild, Rausch mit Musik verbunden. Traum meint hier das traumsichere Schließen einer Gestalt. Er steht daher auch für Individualität und Individuation. Rausch meint das Aufbrechen solcher Sicherheit. Der Rausch steht für Überschreitung und Entgrenzung. Beide sind aufeinander hin zwiespältig angelegt. Weder Rausch noch Traum sind an sich Kunst. Aber sie geben die Möglichkeit von Kunst ab.

Die Kunst kann mit den konkreten (exakten) Beobachtungen und sich qualitativ umsetzenden Erlebnissen umgehen. Sie rekurriert auf das formal nicht Beobachtbare (Messbare) und gibt, logisch gewendet, einen paradoxen Bericht über eben dieses. In erster Näherung könnte es der Kunst möglich sein, dem Erleiden und auch Leiden der nicht-menschlichen Lebewesen Ausdruck zu verleihen. Insofern, als sie die ungeheuerliche Logik der Vernichtung von Lebewesen und Lebensweisen und Konsequenzen daraus sinnlogisch aufzeigt, wäre sie nach dem Modell von Nietzsche apollinisch zu nennen, Apollo zugeordnet. Sie wäre dem Traum verwandt, nämlich dem letztlich schlüssigen, empathisches Erfassen dessen was geschieht. Die Folge wäre ein begrüßenswertes, vertieftes Verstehen das in Nachdenken und Handlung bringt.

Nun stehen Apollo und Traum auch für Distanz. Empathie bedeutet immer noch Distanz. Traum ist immer noch Schein, d.h. kein essentielles Mitgehen. Die Betroffenheit ist abgefedert. Der Rausch hingegen, dem Dionysos zugeordnet, ist eine Form der ganzheitlichen Identifikation. Es ist dem Individuum im Rausch möglich, die Einheit von Mensch und Natur, von Mensch und nicht- menschlichem Wesen, zu erfahren. Damit verbunden ist sowohl ein Grausen über die Existenz als solche als auch die Wonne der Entgrenzung die durch die zeitweilige Aussetzen des Prinzips der Individuation entsteht. In der kultivierten Pflege des Rausches wird man dem Rausch weder verfallen noch ihn vermeiden müssen. Das Ego läuft als Beobachter mit. Es beobachtet wie im Rausch die Welt beobachtet wird. Es geht nicht darum, das Ego zu verlieren, sondern darum, es zu erweitern.

Das Grausen über die Existenz wird durch die Verzückung an der Einheit mit dem Leben ausbalanciert und sogar tragend überspielt. Grausen und Verzückung gehören aber zusammen. Sie sind verquickt (neudeutsch: verschränkt). Verzückung ist kein isoliertes Trostpflaster für das Leben-müssen. Sie wurzelt im Grauen oder Grausen vor dem Leben und uns selbst. Nicht zuletzt gehört es zur unheimlichen Grunderfahrung des Lebens, dass wir auch als Mensch eine lebensvernichtende Seinsform sind. Wir müssen töten, selbst wenn wir es nicht wollen. Auch wenn wir aus guten ethischen oder moralischen Gründen das Töten von Tieren verwerfen, so bleibt das Töten von anderen Lebewesen, den Pflanzen, bestehen. Wenn wir das Leben so wie es ist radikal, ohne jenseitige oder diesseitige Messianismen bejahen wollen, dann können wir vor uns selbst, besonders ausgehend von unseren ethischen und moralischen Wertsetzungen, letztlich nur im Rausch bestehen. Die ethische Verfeinerung, das Bewusstsein Leben eigentlich schonen zu müssen, schafft heute die Grundlage der tiefen Ekstase. Vielleicht dienten die Tabus der Naturvölker gegen Übernutzung von Ressourcen, wie wir heute sagen, einem ähnlichen Zweck der Verfeinerung. Wir können das ethische Vermeiden des Tötens von Tieren als modernes Tabu begreifen, das uns Beschränkungen auferlegt, die letztlich des bewussten Rausches dienlich sind, weil sich damit umso mehr offenbart, dass wir dennoch pflanzliche Lebewesen töten müssen, um zu überleben.

Eine Schnecke wird nicht notwendigerweise das bewusste Grausen über das Leben teilen. Aber die Art wie sie erschrickt, d.h. durch eine Berührung zusammen zuckt oder wie sie versucht, schmerzhaften Einwirkungen aktual oder schon im Vorfeld zu entkommen, verweist auf einen Instinkt für das Grausen im Leben. Für manche Tiere, wie etwa für das Wild- oder Hausschwein, nimmt man in der Tierethik an, dass sie dazu fähig sind, sich als Subjekt ihres Lebens wahrzunehmen. Das bedeutet auch, dass sie sich auf ihre Weise der Abgründigkeit, der Möglichkeiten von Schmerz und Qual des Lebens, irgendwie bewusst sind. Solchen Tieren scheint auch der Rausch möglich zu sein. Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass für Pflanzen nicht mehr ausgeschlossen werden kann, dass sie Schmerz empfinden und auf viele Weisen versuchen, ihr Leben durch Verhaltensweisen zu meistern, die als Intelligenz verstanden wird. Es scheint so, als ob auch Pflanzen die abgründigen Seiten des Lebens auf ihre, bislang unbekannte Weise, kennen würden. Nach den Erkenntnissen universitärer Pflanzenethik haben Pflanzen das Vermögen ein „Glückliches Leben“ zu führen. Daher haben sie ein moralisches

Recht auf Gedeihen. Im Umkehrschluss bedeutet das, dass sie auch eine Art von Sinn für Unglück und Leiden haben könnten aus dem heraus sich ihre sichtbare Intelligenz im Aspekt präventiver Vermeidungsstrategie mit speist.

Die Frage danach, ob Tiere und Pflanzen ein Grausen über ihre Existenz und ein Vermögen zur Ekstase mit uns Teilen können ist rationaler Natur. Die hegemoniale Anwendung von Rationalität entstammt jedoch der Wahnvorstellung, dass nur die analytische Reflexion im Ergründen von Leben statthaft sei (siehe unten). Es gibt keine Möglichkeit zu begründen, dass Rationalität die einzig legitime Zugangsweise ist. Mit der Brille des Rausches betrachtet, der ja ohne Ich-Verlust ablaufen kann, befindet sich besonders die üppig wuchernde Natur selbst im andauernden Rausch. Auch dies ist eine Einsicht aus dem Garten Karnitz, in dem sich die spontane Natur als Verwilderung in den Raum hinein vorschiebt. Bevor die Pest der Pestizide begonnen hat, das Insektenleben zu eliminieren, konnten Massen von Eintagsfliegen, deren Larven aquatisch leben, im Süden Deutschlands nach ihrem Absterben wie Schnee ganze Ufersäume und Straßen bedecken. Bevor preußische Gründlichkeit die gewaltigen Sumpflandschaften Ostdeutschlands hat ausbluten lassen, waren allein die Lautgebungen der in den Feuchtgebieten ansässigen Tiere von einer heute unvorstellbaren Intensität. In der Zeit der Aufklärung, also dem Zeitalter der Vernunft, wurde dieses ekstatische Moment der Landschaft höchst unvernünftig als dämonisch, verabscheuungswürdig empfunden. Man empfand es als Pflicht, es auszulöschen. Die Farben und Düfte einer Wiese, das entlassen mancher Einzelfplanzen von tausenden von Früchten (etwa Schirmflieger der Disteln) aber auch das beständige kleinteilige innerliche Zusammenbrechen naturnaher Wälder im Rahmen eines zufälligen Rhythmus von Werden und Vergehen lässt sich ohne Verkrampfung als rauschhaftes Dasein wahrnehmen.

Kraft unseres anschaulichen Denkens teilen wir also das Grausen (über uns selbst wie über das Leben als solches) und die Ekstase der darin liegenden Vereinigung mit der Natur als zentrale Äußerungen des Lebens, den nicht-menschlichen Lebewesen. Selbst ein ökologisch abgrenzbarer Lebensraum (Biotop), in dem sich das Leben tummelt, kann als ekstatischer Ausdruck erfasst werden. Mithin sind dabei abiotische Dimensionen eingeschlossen.

In der Verquickung von Grausen über das Leben und seinem Rausch kommt es zu einer existentiellen Naturverbindung oder, umfassender, Lebensverbindung. Im Teilen des Grausens über die Existenz mit anderen Lebewesen (zumindest in vorbewusster oder vorsprachlicher Form) als einem gewichtigen Aspekt der Einheit von Natur und Mensch, rückt das Leben essentiell zusammen. Das Bewusstsein zur Verletzlichkeit des Lebens, die Möglichkeit von Leiden und Qual, ist damit keinesfalls ausgelöscht oder gedämpft, sondern schwingt im Rausch mit. Leben erscheint als eine Art von Schicksalsgemeinschaft, die trotz der Antagonismen eine Einheit im abgründigen So-Sein bildet. Nicht in einer positiven oder verklärenden Weise, sondern im Sinne einer eher schonungslosen Bewusstwerdung der Lebensunheimlichkeit sowie der Ekstase, welche den Abgrund im Sinne der Möglichkeit seiner Bewältigung überwölbt, kommt es zum tragenden Einheitsgefühl. Darauf können ethische und moralische Wertesetzungen gewurzelt aufstocken.

Kunst könnte den Rausch als vermittelte Unmittelbarkeit transportieren. Daraus könnte sich eine Kunstform schöpfen, in der sich die spezifische Nähe zum Leben artikuliert aber sich nicht allein im Leidensaspekt verliert. Denn zumindest für den Menschen besteht im dionysischen Rausch die Möglichkeit, die Tragik des Lebens ohne Zuhilfenahme einer weltlichen oder geistlichen Utopie der Erlösung zu bewältigen und dies kunstvoll ausdrücken.

Die Möglichkeit des Rausches schafft die Bejahung des Lebens trotz und wegen des Grausens über das Leben. Das mag auch bildhaft, apollinisch und distanziert, also als Traum, ausgedrückt werden. Die

Einheit mit der Natur bleibt durch den Aspekt des Rausches in intimer Form bestehen.

Die im Rausch manifeste Einheit mit der Natur steht der Abtrennung von der Natur als Sache in der technischen Welt entgegen. Damit ist ein „irrationaler“ Kontrapunkt zur herrschenden, rationalen Lebensgestaltung der industriellen Zivilisation gegeben. Die moderne Gesellschaft kann aufgrund ihrer funktionell bedingten Fragmentiertheit keinen globalen rationalen Umgang mit der Umwelt entwickeln. Es fehlt die Möglichkeit zur Bildung einer rational wirkenden Zentralinstanz. Es ist demnach geradezu unmöglich, dass die Wirkungen auf die Umwelt und damit die Rückwirkungen auf die Gesellschaft rational wirklich gesteuert werden können. Logische und diskursive Reflexion als notwendiges Stilmittel rationaler Weltgestaltung führt zudem nicht notwendigerweise zu den gewünschten rationalen Lösungen. Systemisch gesehen ist es unmöglich, dass ein Entscheidungsträger (Einzelmensch oder Institution) sich selbst vollständig, also rational, transparent darin ist, wie er sich der Natur oder Umwelt gegenüber verhält. Kulturell gesehen tritt Rationalität als Macht auf, die notwendig Unterdrückung von nicht-rational zentrierten Alternativen zur Folge hat.

Das Klammern an Rationalität oder Vernunft als alleiniger tragfähiger Zugang auf die Natur wirkt vor diesem Hintergrund wie eine Manie oder ein Wahn. Es könnte sich um einen uneingestandenen Rausch handeln. Der bewusste, dionysische Rausch verweist auf die gefühlte Einheit mit der Natur, also auf „primitive“ Zeiten vor der Dominanz der scheinbar rational steuerbaren Zivilisation. Der Rausch verweist damit auch auf Zeiten, die nach dem Vergehen der Zivilisation kommen könnten. Insofern besteht die Möglichkeit, die Zivilisation vom ihrem nicht unwahrscheinlichen Ende her zu sehen. Eine am dionysischen Rausch orientierte Kunst könnte die Schönheit „primitiver“ Naturverbindung vermitteln. Die Schönheit bestünde vornehmlich in der Utopie einer gelungenen bidirektionalen Beziehung zur Natur, bei der die Natur als wirkliches Gegenüber oder Subjekt erscheint. Dies ist im rationalen Ansatz ausgeschlossen. Diese Kunst wäre in dem Sinne scheinlose Schönheit, als sie sich vom Schein der Zivilisation verabschiedet hat, dass nur sie und damit die globale Hegemonie der Vernunft das Leben überlebensfähig macht. Es ist nämlich sehr fraglich, ob es überhaupt eine Rationalität jenseits der Zweckrationalität oder eine Vernunft ohne deren Instrumentalisierung für den Erhalt der artenvernichtenden Zivilisation geben kann. Im Minimum könnte der Rolle der Kunst darin bestehen, eine autonome Korrektur innerhalb dieser Zivilisation darzustellen.

Manfred Ade