Wir schaffen das“! Schaffen wir das noch?

„Auf einem Glatzenkopf – wahrscheinlich dem eines Mannes (was aber nicht unbedingt sein muss)– treffen sich drei Spatzen und picken nach Futter. Der Träger des Kopfes denkt, er hätte einen Gedanken.“ Diesen Gedankensplitter hörten wir in einem Radiohörspiel. Wir kicherten. Jetzt wissen wir nicht, wie wir den Bogen zu den nächsten Eindrücken kriegen, aber wir kichern noch.

Einen Tag vor Weihnachten in ein Kaufhaus, nein, in die Hafenmall von San Antonio zu gehen, ist eine besondere Art, sich etwas Schlimmes anzutun. (Aber wir hatten auf der Suche nach einem Modem für den Laptop, mit dem die „Bindungen an die Welt (?)“ aufrechterhalten werden wollte, einen plausiblen Grund.) Nun kommt man nicht umhin, die Auslagen der verschiedenen Markenläden irgendwie wahrzunehmen, wenn man im Gebäudekomplex zügigen Schritts auf der Suche nach diesem einen Laden ist. Schuhchen und Krokotaschen, Starwars-Figuren, Ropa de América, de Europa, de Alemania, ein US-Motorrad-Nachbau, mit dem man nach dem 2. auch den 3. Weltkrieg gewinnen kann – zwischendurch Cheerleader Tänze und ein Großvaterweihnachtsmann für Fotos zu zweit oder dritt usw..

Warum beschäftigt mich das?

Es war eine der typischen „Erleuchtungen“. Ich ging da durch, nein ich war eher auf der Flucht und plötzlich ernüchtert von all der Hässlichkeit, welche den Dingen entströmte. Und mir ging durch den Sinn, dass man Menschen mit Hässlichkeiten erschlägt, wie mit einer Axt, einer nassen Wohnung (Zille) oder Fast Food. Die Dinge die uns umgeben (mit denen wir uns umgeben und von denen wir umgeben werden), prägen uns ähnlich stark wie unsere Sprache und Spreche und unser Essen. Die Gewöhnung an die alltäglichen Scheußlichkeiten (auch der Sprache) greift tiefer in unseren Charakter ein, als wir vermuten. Stendhal hielt Schönheit für eine Verheißung von Glück. Beim Anblick derer, die sich da in der Mall am Pazifik (welches selbst in nichts dem Hässlichen nachsteht) um scheußlicher Dinge willen in lange Schlangen reihten, war die Umkehrung des Stendhalschen Satzes offensichtlich: Abwesenheit von Glück nicht nur im Gesicht und in den Augen, auch in der Körpersprache, dem Selbstwertgefühl. Zu dieser Erkenntnis hätten wir natürlich nicht bis nach Chile fahren müssen.

Zu einer zweiten ebenso wenig: In Paris war einige Tage zuvor ein Weltkongress mit einem Weltvertrag zum Klimaschutz zu Ende gegangen. Patti Smith hatte dazu gesungen, Naomi Klein was gesprochen, die Cape-Farewell-Gruppe hatte ihre Kunstprojekte realisiert (mit der Gruppe sind wir in unserem Trontheim-Projekt verbunden).

Von den Klimazynikern will ich gar nicht reden. Doch in Paris – wo es der Ausnahmezustand, den die französische Regierung im Zuge des absurden Attentats ausgerufen hatte, der außerparlamentarischen Opposition und „dem Citizen“, dem politischen Bürger nicht erlaubte, sich zu äußern – erhielten die CEOs großer Konzerne Rederechte,  (da sie dafür zahlten) während Aktivisten verhaftet und herausgetragen wurden.

Von den CEOs und von vielen Kommentatoren des Ergebnisses von COP21 kam einheitlich die Botschaft: „Wir schaffen das“! Wir haben die 1,5 Grad im Griff. (Während der Pariser Konferenz hatte eine Gruppe von Ländern, die sich Gruppe der Ambitionierten nannte, und welche vor allem arme Länder des Südens zusammenfasste, die in besonderer Härte von Klimafolgen betroffen sind, das Ziel 1,5 Grad – statt der bisherigen 2 Grad gefordert. Recht so! Denn bei diesen Ländern bedeutet selbst diese Klimaveränderung katastrophale ökologische und soziale Folgen.)

Aber es kamen nicht neue ernstgemeinte Angebote zur CO2-Reduktion von Nationen oder globalen Konzernen, um der Allianz der ambitionierten Länder unter die Arme zu greifen. Jetzt setzten sich CEOs und Politiker und Medienmacher auf diese Zahl und vermeldeten „Wir habens schon im Griff. Weiter so“ – wohl wissend, dass die technischen und sozialen Neuerungen/Veränderungen, die bisher mit dem Weltvertrag beschlossen wurden nicht einmal reichen, um einen Temperaturanstieg von 2,7 Grad zu halten. Zwischen 1,5 Grad und 2,7 Grad liegt ein Desaster. Dieses wird aber wieder nicht benannt! Jetzt, wo die Zeit für kluge Entscheidungen schon fast um ist, aber eben „fast“, wird ein Dunstschleier ausgebreitet: „Ist was?“ – „Ist was zu tun?“ – „Ihr Bürger lasst lieber die Finger davon.“

Ist das Dummheit? Ich bin einfach nur baff über die Steigerungsmöglichkeiten, die Ignoranz bieten kann.

Was ist eigentlich Dummheit? Mangel an Verstand? Nun, Erasmus von Rotterdam meinte einmal in „Lob der Torheit“: Ohne gewisse Dummheit käme der Mensch bisweilen nicht einmal auf die Welt. Also Mangel an Verstand  ist das, was wir erleben, nicht. Auch nicht jene schlichte Dummheit, die man mit Erscheinungen wie Lothar Matthäus (mir fällt grad keine bessere Erscheinung ein) in Verbindung bringen möchte – denn sie ist eine geradezu anmutige und helle, gelegentlich sympathische und bisweilen poetische Erscheinung. Robert Musil hat das in seiner Rede „Über die Dummheit“ einmal so beschrieben: Frage man die Erscheinung oder Person: Was ist Religion? – sagt sie: „Wenn man in die Kirche geht“; und erkundigt man sich „Wer war Petrus“? lautet die Antwort: „Er hat dreimal gekräht“. Diese Dummheit, so Robert Musil, habe „nicht wenig von den roten Wangen des Lebens.“

Doch die Dummheit, um die es hier geht, ist zweierlei: Seelendummheit oder Dummheit als Gefühlsfehler, die ihren Ursprung in Furcht vor dem Leben, Angst vor der Zukunft hat einerseits und empathischer Unfähigkeit und Zukunftslosigkeit anderseits ist. Und in der Unfähigkeit, darauf auf andere Art als arrogant und ignorant oder sogar hassend zu reagieren. Es liegt im Charakter des globalen, durch oligarche Strukturen gezeichneten Marktes, der seit einiger Zeit (nach der Auflösung des Ostens) kein Außen und keine Expansionsmöglichkeiten mehr hat, dass seine Akteure ans Eingemachte gehen: statt Dekarbonisierung mehr Fracking, Braunkohle, Ölschiefer, die CO2-Zertifikate werden verzockt, die technischen Anpassung an die Klimafolgen – je schlimmer umso besser – haben ihren eigenen Preis. Empathie geht gar nicht, auch nicht zwischen Freunden…

 

Aristoteles schrieb: Freundschaft  und Seelenverwandtschaft ist eine Seele in zwei Körpern – in unserem und dann in dem des Freundes. Unser persönliches Verhalten hängt viel vom Verhalten unserer Freunde und der uns umgebenden Menschen ab. Wir sind unser soziales Umfeld. Was aber ist, wenn das ebenso scheußlich ist, wie viele der Waren zu Weihnachten?

Paris hatte vor COP21 den blutigen 13. November. „Unsere Antwort auf Gewalt ist noch mehr Demokratie, noch mehr Humanität, aber niemals Naivität.“ Nein, leider ist dieser Satz nicht von Hollande. Und leider hörte man ihn bisher in den ganzen unruhigen Zeiten wirklich nur einmal: von dem norwegischen Ministerpräsidenten Stoltenberg nur kurze Zeit nach dem Anschlag des Islamhassers Breivik — doch leider ohne Wirkung.

Am Tag, als die USA dem Irak ihren ersten Krieg erklärten, das war viele Jahre zuvor, saß ich mit einem Wissenschaftsfreund  aus Roskilde in der „Deponie“ in Berlin. Wir redeten natürlich über diese neue Eruption. Plötzlich fing er – ein gestandener Mann – hemmungslos zu weinen an: „Welche Leiden stehen wieder an bei den Unschuldigen der Welt“ – sagte er. Am Abend sendete die ARD die ersten Bilder der Raketeneinschläge und die ersten Kommentare zu den Kollateralschäden. Von „unseren Werten“ ist allenthalben die Rede, die wir schützen müssen – besonders jetzt nach Paris. Döpfner vom Springer-Konzern schreibt über einen Kulturkampf zwischen Islam und Christentum. Das schreibt auch der IS, das schreiben auch die fundamentalistischen Kirchen in Amerika… „Wie wollen wir unsere Freiheit verteidigen? Unseren Allah? Unseren Gott“ – Es ist alles Gleich: gefragt ist nur die Formel „Unterwerfung oder Kampf“- und wenn Kampf: wie?

Es stimmt – wir stecken mittendrin in einem Kulturkampf! Aber der wird nicht zwischen dem Islam und dem Christentum oder anderen Religionen geführt, sondern zwischen denen, die auf den Konflikt setzen und jenen, die an Versöhnung, an gemeinsames Leben, an gemeinsame Kultur glauben.

Ja wenn WIR die Welt in Freunde und Feinde einteilen und Konflikte erst dann beendet sehen, wenn der andere vernichtet ist – oder man selbst, dann ist das eine Bruderschaft mit den IS-Leuten. WIR singen gemeinsam das Lied vom Krieg und Tod. Westliche Werte sind wo?

Ich – Atheist (und begeisterter Leser der Schriften von Dorothe Sölle) – bin in diesem Land, dessen Repräsentanten immerzu mit ihren westlichen Werten um sich werfen, wie früher meinen Tanten mit den Carepaketen – zutiefst irritiert: „wo ist bei Euch das Matthäus-Evangelium, das auch mich prägte: „Selig sind die Barmherzigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen.“

Nie hat der Westen mit der kurzen deutsch-schwedischen Episode tätiger Versöhnung – der Aufnahme von über einer Million islamistischer Flüchtlinge – dem antihumanen Wesensstil des IS eine größere Niederlage bereitet als in dem Moment, da er den unter Krieg und Terror leidenden Muslimen Schutz gewährte. !

 

Ab dem nächsten Jahr – wenn es so will – schreiben wir wieder mehr über Gärten und deren Geister.

Jetzt, vom Pazifik in Las Cruces (Chile) ganz verwunschen und verzaubert möchten wir Euch umarmen und Euch und uns ein anderes neues Jahr wünschen, als das 2015. Ein selbstbewussteres, widerständigeres und widerspenstigeres Jahr!

 


Große Bucht zwischen Las Cruces und Cartagena, Wetterumschwung zwischen Weihnachten und Neujahr.

Nun, das Jahr 2016 wird sagen : Nur zu, es liegt alles in Eurer Hand – ich bin nur der Zeitmantel.

Martina und Joachim